Verletzlichkeit wagen

Wie echte Verbindung wachsen kann

Text: Angelina Hufen // Fotos: Hannah Zint

Ich habe etwas entdeckt.

Es sind drei Dinge. Sie haben sich in den letzten Jahren nach und nach entfaltet, in vielen Gesprächen, beim Lesen und Nachdenken. Eins davon ist wunderschön und lebenswichtig. Eins ist tückisch-trennend. Und das letzte erfordert großen Mut, lohnt sich dafür aber umso mehr.

VERBUNDENHEIT

Die erste Entdeckung ist Verbundenheit. Damit meine ich das Gefühl, mich mit anderen Menschen verbunden zu fühlen. Zu spüren, dass da ein inneres Band ist, das echt und tief und sicher ist. Es hat mit Zugehörigkeit zu tun: zu wissen, ich gehöre zu jemandem oder einer Gruppe, und in dieser Verbindung sind wir absolut füreinander. Wir stehen füreinander ein. Es steckt auch etwas von emotionaler Bindung darin: gegenseitige Zuneigung oder sogar Liebe. Ich weiß, ich habe einen Platz im Herzen des anderen. Es macht einen Unterschied für sie oder ihn, ob ich da bin oder nicht. Und: Diese Verbindung werde ich nicht so leicht verlieren. Er oder sie hat sich für die Verbindung mit mir entschieden und steht zu dieser inneren Entscheidung. Das klingt wunderschön, oder? Ich bin sicher, dass es existenziell für unser Leben ist und wir diese Verbundenheit brauchen.

Mein Problem mit der Entdeckung des Phänomens Verbundenheit ist: Sie fehlt mir. Ich habe in keiner Beziehung das Gefühl, so tief und sicher verbunden zu sein, wie ich es oben beschrieben habe: Emotional und nah. Zuverlässig. Vertraut, zugehörig. Bisher fühlten sich meine Beziehungen sehr distanziert an. Ich schätze, das klingt dramatisch. Gleichzeitig würde ich trotzdem sagen, dass ich bislang ein erfülltes, recht gutes Leben gehabt habe. Meine Freundschaften waren auch nicht unbedingt oberflächlich. Aber man kann mit Menschen über sehr tiefe Themen reden, ohne sich innerlich mit ihnen zu verbinden. Das war bei mir der Fall.

Eine US-amerikanische Sozialpsychologin und Professorin hat jahrelang genau zu diesem Thema geforscht und darüber geschrieben. Ihr Name ist Brené Brown. In ihrem TED Talk* von 2010 sagt sie: „Was wir wissen, ist: Verbundenheit – die Fähigkeit, sich mit anderen verbunden zu fühlen – ist der Grund, aus dem wir hier sind.“ [1]

Sie hat tausende von Lebensberichten gehört und hunderte Interviews geführt. Und irgendwann fand sie heraus: Die Menschen, die Verbundenheit empfanden, die sich geliebt und zugehörig fühlten, hatten eine Sache gemeinsam. Sie glaubten, dass sie es wert waren. Wert, geliebt und zugehörig zu sein. Diejenigen hingegen, die Schwierigkeiten hatten, sich verbunden zu fühlen, konnten das nicht glauben. Sie hatten Angst davor, abgewiesen zu werden und allein zu sein. Das, was uns davon abhält, uns verbunden, geliebt und zugehörig zu fühlen, ist die Angst, es nicht verdient“ zu haben. Nicht liebenswürdig zu sein. Nicht genug zu sein. Diese Angst ist meine zweite Entdeckung und man nennt sie: Scham.

SCHAM

Kennst du das: Hast du manchmal Angst, was dein Gegenüber von dir halten wird, wenn du ganz ehrlich bist? Räumst du manchmal noch hektisch die Wohnung auf, bevor Besuch kommt, damit niemand denkt, du seist unordentlich? Hältst du manchmal deine Ansicht über etwas zurück, weil du Angst hast, damit dumm zu wirken oder dafür von anderen verurteilt zu werden? Was sind Dinge, die du vor anderen versteckst, weil dich sicher niemand mehr annehmen und respektieren könnte, der sie sieht?

Scham funktioniert wie eine innere Grenze, die dich von anderen trennt. Sie ist die Angst davor, abgewiesen zu werden. Sie ist das Gefühl, zu viel von dir preisgegeben zu haben und nun verwundbar zu sein, dem Urteil anderer ausgeliefert. Scham lässt dich dich selbst verstecken und allein zurückziehen, damit niemand deine Fehler sieht. Scham macht einsam. Sie trennt und verhindert Verbundenheit. Und sie sagt dir, dass du allein damit bist. Aber das bist du nicht. Du bist nicht allein damit! Wir alle verstecken Anteile von uns aus Angst, für sie verurteilt zu werden.

Das Problem an Scham ist: Du versteckst nicht nur bestimmte Seiten von dir. Du schaffst auch Abstand zu anderen. Du hältst sie von deinem Herzen fern und dich von ihnen. Es macht das Klima deiner Beziehungen kühler und verhindert echte Nähe. Und Scham sagt nie die ganze Wahrheit über dich. Ich glaube, dass ein Schöpfergott uns bewusst und voller Liebe so geschaffen hat, wie wir sind: liebenswürdig, ihm ähnlich und damit unantastbar würdevoll. Und dass wir uns deshalb nicht zu verstecken brauchen.

Noch einmal zurück zu Brené Brown und ihrer Forschung zu Verbundenheit und Scham. Sie fand heraus, dass die, die glaubten, dass sie es wert waren und die sich verbunden fühlten, noch etwas gemeinsam hatten: Sie ließen zu, dass sie ganz gesehen wurden. Ganz, in aller Unperfektheit. Sie machten sich verletzlich. Das ist meine dritte Entdeckung: Verletzlichkeit. Sie ist ein großer Teil der Lösung.

VERLETZLICHKEIT

Für echte Verbundenheit braucht es dein ganzes Herz. Um dich wirklich und tief mit anderen zu verbinden, braucht es deine schönen Seiten, deine Stärken und strahlenden Eigenschaften – und genau die, die du verstecken willst. Deine positiven Emotionen, deine Freude und deine Zuneigung – und deine Angst, deinen Neid und deine Unsicherheit.

Ich möchte und brauche innere Nähe. Ich will echte, emotionale Beziehungen, in denen ich mich dem anderen „zumute“ und darauf vertraue, dass er diese Verbindung auch möchte, auch dauerhaft. Und das heißt: Ich muss mich verletzlich machen und ganz zeigen. Und wenn du das möchtest, ist es unumgänglich, dass du dich verletzlich machst und ganz zeigst.

Was bedeutet das?

Es bedeutet, zutiefst ehrlich und anwesend zu sein. Den „Analytiker-Modus“ zu verlassen und dich nicht ständig zu fragen, was jemand denkt, sondern dich ganz auf einen Moment einzulassen. Ihn intensiv zu erleben und zu fühlen. Deine echten Emotionen zu zeigen. Dinge nicht zu überspielen, um dich zu verstecken. Sondern auch Dinge zu zeigen oder zu erzählen, die unperfekt oder noch nicht fertig sind, die du schwer aushältst. Die Wohnung nicht noch hektisch aufzuräumen, sondern lieber noch einmal durchzuatmen und dich auf den Besuch zu freuen. Die Kontrolle darüber abzugeben, was der andere von dir sehen und über dich denken könnte. Und zu erfahren, dass er oder sie dich hinterher immer noch mag.

Ich selbst erlebe, wie ich aufgefangen werde. Mir ist erst dadurch bewusst geworden, was für wundervolle Freundinnen ich habe, dass ich mich ihnen ehrlich anvertraut habe. Auch mal schwach. Nicht fähig. Nicht alles unter Kontrolle, nicht „aalglatt“, sondern auch mal konfliktbereit. Und tatsächlich: Sie bleiben und sie lieben mich weiter. Vielleicht sogar noch etwas mehr, weil ich ihnen so noch mehr Herz zum Lieben hinhalte.

Und weißt du was? Selbst wenn andere dich verurteilen: Es braucht dich nicht zu bestimmen. Ein Zitat dazu, das mich persönlich auf diesem inneren Weg begleitet und mich mehr als alles andere ermutigt, stammt aus der Bibel: Allerdings hat es für mich keinerlei Bedeutung, welches Urteil ihr über mich fällt oder ob sonst irgendeine menschliche Instanz über mich zu Gericht sitzt. Nicht einmal ich selbst maße mir ein Urteil über mich an. … Entscheidend ist das Urteil, das der Herr über mich spricht.“ [2]

Bei Gott kann ich komplett ehrlich sein. Mich ganz zeigen. Und er nimmt mich an, genauso wie ich bin. Er hat mich schließlich so gemacht. Auch deshalb brauche ich mich nicht zu schämen. Und alles, was an mir und in mir nicht gut und gesund ist, nimmt er, wenn ich es ihm hinhalte. Und er macht es gut, Stück für Stück. Er sieht und liebt mich – und seine Meinung über mich ist die, die für mich zählt, weil er Gott ist. Das gibt mir den Mut, mich auch anderen offen zu zeigen.

Wie wäre es, wenn wir die Gewissheit hätten: Ja, wir haben Fehler und Schwächen. Aber wir sind es trotz und mit ihnen absolut wert, geliebt zu werden und verbunden zu sein?

Vielleicht wagen wir den Anfang bei einer Person, der wir vertrauen. Vielleicht finden wir den Mut, ihr zu zeigen, was uns wirklich bewegt. Sagen vor ihr offen unsere Meinung und trauen ihr zu, dass sie es aushält. Lassen sie in unsere unaufgeräumte Wohnung und stellen fest, dass sie uns trotzdem weiter respektiert und auch wieder gern besucht.

Es würde bedeuten, dass wir springen. Jedes Mal. Und jedes Mal ist es ein Risiko. Aber wenn wir es wagen, uns zu zeigen, ganz und ehrlich und verletzlich, dann wird Scham uns nicht länger von anderen trennen.

Ich bin einem Lied begegnet, das mich sehr berührt und das perfekt passt. Es hat im Refrain die perfekten Schlussworte für diesen Artikel: Mein Kind, es ist Zeit, deine Schale zu durchbrechen. Das Leben wird dich verletzen, aber es ist dazu bestimmt, gefühlt zu werden. Du kannst den Himmel nicht von deinem Inneren heraus berühren. Du wirst nicht fliegen können, bis du die Schale durchbrichst.“ [3]

 


 

*TED Talks sind eine Auswahl der besten Vorträge von global stattfindenden Innovationskonferenzen, die kostenlos online gestellt werden.

[1] Brené Brown, 2010: „The power of vulnerability“ https://www.youtube.com/watch?v=iCvmsMzlF7o (Zitat aus dem Englischen übertragen von der Autorin des Artikels)

[2] Die Bibel: 1. Korintherbrief Kapitel 4, Verse 3 und 4.    Neue Genfer Übersetzung

[3] India.Arie, 2013: „Break the Shell“ (Zitat aus dem Englischen übertragen von der Autorin des Artikels)