Wo der Blick ruhen kann

Text: Andrea Specht // Foto: Hannah Zint // Illustration: Annelie Tesch

 

Hand aufs Herz – die meisten von uns haben sie, die kleinen, feinen „Krimskrams-Ecken“. Diese stiefmütterlich behandelten Ablagen, Regale und Oberflächen, die wir mit dem Strandgut unseres Lebens beladen. Den Dingen, die irgendwie zu uns gekommen sind, keinen rechten Platz haben und daher einfach lustlos liegenbleiben. In jedem einzelnen Zimmer kann ich sie sofort ausmachen, sogar im Bad und im Flur … Und das Verrückte: Ich kann sie monate-, ja sogar jahrelang ignorieren. Zumindest vordergründig.

Schweift mein Blick beim Betreten des Flurs kurz über die mit allerlei „Zeug“ vollgeparkte Ablage, ist er gleich schon weiter beim Schlüsselbrett, beim Garderobenhaken. Doch der kurze Gedanke, dass ich da endlich mal Ordnung schaffen müsste, bleibt und belastet.

„Irgendwann. Wenn mal mehr Zeit ist.“ Doch dieses „Irgendwann“ kommt normalerweise nie.

Doch plötzlich war sie da, die Zeit. #Stayathome brachte unverhältnismäßig mehr Zeit in den eigenen vier Wänden. Unverhältnismäßig oft fiel mein Blick auf die Ablage im Flur. Und noch häufiger auf die „Krimskrams-Ecke“ im Wohnzimmer: Auf der Kommode türmten sich noch die Geburtskarten und -geschenke unseres mittlerweile Einjährigen. Neben vielen anderen Dingen und Undingen, die wir dort achtlos abgeworfen hatten. Die dort bis jetzt liegengeblieben sind, weil sie keinen richtigen Platz im Haus haben. Bei so viel Zeit, die wir plötzlich im Wohnzimmer verbrachten, konnte ich den Gedanken „Das sollte ich endlich mal aufräumen!“ nicht weiter wegschieben. Im Ergebnis ist eine freie Oberfläche auf der Kommode entstanden, auf der nur ein paar wenige ästhetisch ansprechende Gegenstände bleiben durften: einige Kerzenständer, getrocknete Blumen, ein schlichtes Holzkreuz, ein Lieblingsbuch mit inspirierendem Cover, eine hübsch geschnitzte Schatulle. Alle anderen Dinge haben einen neuen Platz oder Besitzer gefunden oder sind in den Müll gewandert.

Eine Wohltat für Auge und Seele.

Jetzt sitze ich gerne auf dem Sofa und lasse meinen Blick auf der Kommode ruhen. Schönes steht da, das Freude macht und einlädt zum Verweilen. Symbole, die mich erinnern. Klarheit, die mich erdet.

Vielen ging es in den letzten Wochen offenbar genauso. Im Gegenzug wurden auch mir etliche aussortierte Dinge angeboten, viele „Zu-verschenken-Kisten“ standen an Hauswänden und überall lagerte Sperrmüll zur Abholung. Die vollgestopfte Regalwand, der unliebsame Bereich unter der Kellertreppe, das überladene Küchenbord oder Schubladen voller Schnickschnack – jetzt war endlich Zeit, auszumisten. Sich dem „Innen“ zuzuwenden, neue Ordnungen zu schaffen. Entscheidungen zu treffen, sich zu trennen, die unmittelbare Umgebung zu verschönern.

Und aufzuatmen: Leere und Klarheit statt angehäufter Sammelsurien.

Es ist immer wieder überraschend, wie kraftvoll sich eine aufgeräumte „Krimskrams-Ecke“ auf unser Wohlbefinden auswirkt. Wenn der Blick ruhen kann, ohne dabei zehn unerledigte To Dos aufzuschrecken. Wenn er einfach still verweilen kann, Wimpernschlag um Wimpernschlag, und Ruhe zurückstrahlt in unser Inneres.

Doch dahinter steckt noch eine tiefere Dimension. An mir habe ich festgestellt, dass ich besonders dann einen unbändigen Drang nach Ordnung und „Leere“ habe, wenn es in mir selbst unaufgeräumt ist. Je aufgewühlter es in mir drin aussieht, desto größer wird meine Sehnsucht nach Einfachheit und Klarheit in meiner Umgebung. Das kann schon mal zu einer ausgewachsenen Wegwerf-Wut oder einer Aufräumattacke führen. Eine aktionistische Ersatzhandlung, die erst einmal über das hinweggeht, was eigentlich ursprünglich nach Aufmerksamkeit schreit.

Doch es hilft auch im zweiten Schritt. Denn ein ästhetisch-leeres „Außen“ hilft mir, mich innerlich auszurichten. Durch eine klare Umgebung, die Schönheit atmet, komme ich leichter zur Ruhe. Kann mich und meine Sehnsucht besser spüren und mich den inneren Themen, meinen mentalen oder seelischen „Krimskrams-Ecken“ zuwenden. Finde Stille, um nachzuspüren, zu beten, zu hören.

Die Corona-Zeit hat eine innere und äußere Unübersichtlichkeit mit sich gebracht, die uns alle in irgendeiner Weise verunsichert hat. Unser gewohntes Leben geriet aus den Bahnen. Pläne zu machen, war plötzlich unmöglich und niemand wusste, für wie lange. Ein Schwebezustand, der für viele von uns schwer auszuhalten war. Das, was wir noch – in aller Begrenzung – beeinflussen konnten, war unsere direkte Umgebung. Unser Zuhause, das wir gestalten konnten, wo wir uns als handelnd und kreativ erleben konnten – während uns sonst in so vielem die Hände gebunden waren. Wenigstens hier war es uns möglich, für Einfachheit und Klarheit zu sorgen, obwohl uns die Komplexität der neuen Realität draußen täglich überforderte. Hier drinnen konnten wir ein wenig Kontrolle wiederfinden.

Und Schönes schaffen, das unser Inneres beflügelt. Denn so wie eine klare Umgebung die Enge in unserem Herzen weit werden lässt, so weckt Schönes Sehnsucht. Und Sehnsucht lässt sich nicht begrenzen. Sie strebt hinaus, streckt sich aus nach dem Dahinterliegenden, dem Göttlichen. Und dort kann sie – kann ich – wirklich ankommen. Denn der mich gemacht hat, sehnt sich genauso nach mir, und begegnet meiner Sehnsucht und Ruhelosigkeit mit Frieden. In seiner Gegenwart wird leise wieder ein Raum in mir spürbar. Raum für mehr. Der möglich ist, trotz aller äußeren Beschränkungen. Ein Raum, der guttut. Aber im Alltag oft so schwer zu finden und freizuhalten ist.

Denn es bleibt eine der größten Herausforderungen, diese freien Räume zu verteidigen. Die endlich auch aufgeräumte Ablage im Flur zieht jeden Tag aufs Neue Strandgut an. Auf der Wohnzimmerkommode landet wieder gedankenlos abgestellter Alltagskram. Das gilt genauso für unsere inneren „Krimskrams-Ecken“. Ehe wir es bewusst wahrnehmen, hat sich dort wieder Ballast angesammelt, scheuchen ungute Gedanken umher, die uns prägen. Und ohne, dass wir es bemerken, wird unser Herz wieder eng.

Aber dort, wo der Blick ruhen kann – im Äußeren wie im Inneren – nehmen wir unsere Sehnsucht wahr. Die uns mit uns selbst und dem Göttlichen verbindet. Uns beflügelt, Ruhe und eine Ahnung von Weite schenkt. Trotz aller äußeren Begrenzungen. Auch nach #Stayathome.