Schöne Begrenztheit: Ein Brief an Dich

Text: Danielle Smith // Foto: Hannah Zint // Illustration: Annelie Tesch

Du, Grenzgängerin, bist stärker als du dich fühlst. In welcher Lebenssituation auch immer dich dieses Magazin findet – du bist eine widerstandsfähige Frau mit einer Stimme, die Gewicht hat. Und gleichzeitig bist du auch begrenzter, als dir vielleicht bewusst ist.

Bevor wir uns für andere einsetzen und für Gerechtigkeit kämpfen können, ist es wichtig, dass wir unsere Grenzen anerkennen: was wir können und was nicht. Dadurch finden wir zu Frieden mit uns und zu größerer Freiheit. Das bedeutet auch, dass wir uns der manchmal schwierigen Aufgabe stellen, schmerzhafte Erlebnisse zu verarbeiten. Unsere Schwächen wahrnehmen und auch zeigen. Denn um Verbundenheit mit anderen erfahren zu können, braucht es wechselseitig gelebte Verletzlichkeit, die Scham überwindet und damit verbindende „Was – du auch?“-Situationen schafft.

Und genau darum geht es: begrenzt zu sein und sich das zu erlauben. Wir von Wildblume glauben daran, dass eine tiefe Schönheit in Schwachheit liegt – in diesen Momenten, wenn wir an unsere Belastungsgrenze kommen und einsehen, dass wir Hilfe von außen brauchen. Denn dort trifft das Göttliche auf unsere Angst, schwinden Grenzen zwischen Heiligem und Menschlichem. Begrenzt zu sein, innere Grenzen zu haben, die Bedürftigkeit auslösen, heißt, menschlich zu sein. Es bedeutet, mit einem Anderen verbunden zu sein, der nicht nur unsere Schwachheit versteht, sondern sich auch danach sehnt, einzugreifen und uns zu befreien.

Grenzen und Begrenztheit bilden die Kontur unserer täglichen Abläufe und wir strukturieren sie entsprechend. Indem wir diese Begrenzungen so anerkennen und uns ihnen anpassen,  können unser Körper und unsere Seele weiter funktionieren. Einige dieser Grenzen haben wir unter Kontrolle, andere wiederum nicht. Einigen sind wir uns bewusst, andere bleiben lange unbemerkt. Es gibt Grenzen, die wir uns selbst setzen, und solche, die uns auferlegt werden. Und es gibt die alltäglichen, ganz persönlichen – abhängig von unseren Umständen und unserer Geschichte.

Für mich als Amerikanerin, die Deutschland ihr Zuhause nennt, bedeutet es, dass ich täglich an die Grenzen einer Sprache stoße, die nicht meine Muttersprache ist. Und dann gibt es da die geografische „Grenze“ eines 14-stündigen Flugs, die mich von meiner Familie trennt. Für jemanden wie mich, für die psychische Gesundheit ein Thema ist, ist es wichtig, auf der Gefühls- und Beziehungsebene Grenzen für mein Wohlbefinden zu setzen. Und als gläubiger Mensch bedeutet es, dass ich immer wieder an die Grenze meines Verstehens gelange. Und den göttlichen Frieden umarme – trotz aller Spannungen, die die unbeantworteten Fragen aufwerfen -, weil ich mit tiefer Gewissheit weiß, dass ich geliebt bin. Und das für mich überwiegt.

Und dann gibt es da noch eine Grenze, die im gefährlichsten Sinne verletzt werden kann. Die Grenze, die unser Menschsein ausmacht: die Würde und der Wert jedes einzelnen. Seit Jahrhunderten wurde und wird diese Grenze wertvoller Menschen übertreten. Derjenigen, die nicht von „white privilege“ – Privilegien aufgrund heller Hautfarbe – profitieren, sondern die darunter leiden. Im Mai wurde die Welt durch die Vorkommnisse in den USA wachgerüttelt. Rassismus wurde neu definiert und schließt uns nun alle [, ohne Ausnahme,] ein.

Und dann gab es die „Grenzen“, die seit Frühling unsere Realität maßgeblich bestimmten. Die sich ein wenig anders anfühlten. Nicht, weil Grenzen an sich neu waren. Sondern weil sie uns einschränkten und uns vorschrieben, dass wir nicht einmal in ein Flugzeug steigen und einen kranken Familienangehörigen – 14 Flugstunden entfernt – besuchen durften. Begrenzungen, durch die den meisten von uns nichts anderes übrigblieb, als von zu Hause aus zu arbeiten, physisch von denen getrennt, die uns wichtig sind. Es war eine schonungslose Grenze, die uns alle auf eine Art gleichgemacht hat, an der weder unser Gesundheitszustand noch unser Kontostand etwas ändern konnte. Es war eine globale Grenze, die uns alle gleichermaßen betraf.

Obwohl wir die COVID-19 Einschränkungen nicht verhindern konnten, die sich in unser Leben gedrängt hatten, ließen wir uns nicht entmutigen. Finanzielle Rückschläge führten zu einfallsreichen Wendepunkten in Berufskarrieren. Der Mangel an Körperkontakt rief in uns eine größere Dankbarkeit für die Menschen hervor, die uns auf unserem Lebensweg unterstützen und die immer noch da waren, nur einen Zoom-Anruf entfernt. Die Sorge, die sich in uns ausgebreitet und eingenistet hatte, zwang uns dazu, unseren Ängsten die Stirn zu bieten und neue Wege zu finden, mit ihnen zu leben.

Eine „Grenzgängerin“ zu sein, bedeutet, zutiefst begrenzt zu sein, zutiefst widerstandsfähig und dazu in der Lage, Beziehungen einzugehen. Verstecke diese schöne Schwachheit nicht, Wildblume.

Deine begrenzte Grenzgängerin

Danielle