Ode an den Bruder

In Herzensdingen weit voraus

Text: Conny Sasse // Foto: Thomas Sasse

Wenn mein Bruder auf der Straße unterwegs ist, fällt er auf. Sein langsamer, gemütlicher Schritt kann schon mal den einen oder anderen Fußgänger aufhalten. Wenn Kinder vorbeikommen, die ihn neugierig anschauen, winkt er ihnen und wenn Passanten an uns vorbeigehen, grüßt er sie mit einem freundlichen „Guten Tach!“. Danach vergewissert er sich mit prüfendem Blick, ob auch eine Antwort zurückkommt. Sobald sein Gruß erwidert wird, nickt er zufrieden. Ihm ist es noch nie schwergefallen, auf Menschen zuzugehen. Andere Dinge, wie Sprechen, Lesen oder Rechnen, hingegen schon.

Früher in der Grundschule haben mich die anderen Kinder einmal gefragt, wie lange er das schon hat, dieses Down-Syndrom. Und ob man das heilen kann. Ich habe mit den Schultern gezuckt und dachte mir: Das ist halt mein großer Bruder, der ist schon immer so. Und außerdem muss er doch gar nicht geheilt werden.

Je älter ich werde, umso deutlicher sehe ich, dass gerade er mir hilft, das Leben aus einer gesunden Perspektive heraus zu betrachten – nämlich mit viel Freude. Wenn er einen seiner schelmischen Witze nach Heinz-Erhardt-Manier macht, verblassen für einen Moment so manche schwere Gedanken.

Eine Gemeinsamkeit, die uns verbindet, ist die Liebe zur Musik. Beim Singen trifft er zwar keinen sauberen Ton und man versteht nur ein paar wenige Worte, das aber hält ihn nicht davon ab, sich auf eine Bühne zu stellen und einen Song oder einen spontanen Rap zu präsentieren. Für ihn sind dabei allein drei Sachen wichtig: Leidenschaft, Herz und so laut wie möglich. Man mag es kaum glauben, aber wenn er in seinem mit Postern behängten Zimmer ein Privatkonzert gibt, gefallen mir selbst die Lieder von Wolfgang Petry, Andrea Berg und DJ Ötzi. Was er tut, geht eben ins Herz.

Bei all diesen schönen Erinnerungen will ich die Herausforderungen, die er durch sein Anderssein erlebt, nicht kleinreden. Als ein Arzt bei meinem Bruder im Kindesalter eine schwere Krankheit diagnostizierte und daraufhin meinte, dass das bei ihm ja nicht so schlimm sei, ließ das meine Eltern empört und verständnislos zurück. Auch er selbst erlebt immer wieder Frust in seinen Einschränkungen. Wenn er in einer Erzählung fünfmal versucht, dasselbe Wort zu sagen, welches ich aber immer wieder falsch verstehe, dann lässt er irgendwann resigniert seine Schultern hängen.

An den Maßstäben unserer Gesellschaft gemessen, scheint er nicht besonders erfolgreich oder bedeutend zu sein. Wenn es aber um Herzensdinge geht, wie ehrliche Freude, Treue, Humor und Leichtigkeit, frage ich mich, ob er nicht viel mehr vom Leben verstanden hat als ich.

Ja mehr noch, wenn er mir auf dem Bahnsteig mit weit ausgestreckten Armen entgegenrennt und sich zur Begrüßung mit einem freudestrahlenden „Conny!“ an mich hängt, kann ich nicht anders, als Gottes überfließende Liebe in ihm zu sehen. So als würde Gott sich mir und anderen zeigen wollen, und das durch meinen Bruder. Ein Zitat aus der Bibel passt sehr gut zu dem, wie ich es erlebe: „Was in dieser Welt unbedeutend und verachtet ist und was bei den Menschen nichts gilt, das hat Gott erwählt“[1].

Mein Bruder passt nicht ins Bild und sprengt regelmäßig den Rahmen. Er ist anders. Und genau dadurch ist er für mich und andere so eine große Bereicherung.

 

 

 

[1] Die Bibel, Neue Genfer Übersetzung, 1. Korintherbrief 1,28