Mit Mut und Farbe Grenzen überwinden

 

Text: Katharina Kohlhaas // Foto: Rebekka Eversmann // Illustration: Annelie Tesch

 

Leidenschaftliche Menschen begeistern mich. 

Menschen, die im Hier und Jetzt mit voller Hingabe leben. Die dabei einerseits tief mit sich verbunden sind und sich gleichzeitig ganz auf den Anderen, auf die Situation einlassen. Sie machen einen Unterschied, in diesem Augenblick. Weil sie genau jetzt das Richtige tun: Ihr Herz, ihre Persönlichkeit, eine bestimmte Fähigkeit ist in diesem Moment besonders lebendig.

Für mich ist Kerstin so eine Person. Ich kenne sie schon recht lange. Einige Jahre, oft flüchtige Begegnungen. Einige kurze oder längere Gespräche, oft mit viel Leichtigkeit, aber ebenso intensiv und bewegend. Sie war eine dieser Personen, die ich gesehen habe und mir dachte: Dich will ich kennenlernen dürfen. Ich möchte so gern mehr von dir wissen, was dich bewegt und wonach du dich sehnst. Mein Interesse traf auf ihre Offenheit und Herzlichkeit. Ich erhielt Einblick in ihr Leben und ihren tiefen Glauben, aus dem sie schöpft.

In unserem letzten Gespräch berichtete sie mir von ihrer kunsttherapeutischen Arbeit mit Frauen, die nach Deutschland geflohen sind. Frauen, die hier jetzt ankommen, sich zurechtfinden. Sie lädt sie zur Farboase, einem regelmäßigen Treffen in Potsdam, ein. Oase. Farboase. Während sie zu erzählen beginnt, denke ich über das Wort Oase nach.

Mit der Farboase bietet sie Frauen einen Ort an, um über ihre persönlichen Verluste und traumatischen Erlebnisse zu sprechen. Die Frauen kommen meist aus Syrien, dem Irak, Afghanistan. Im orientalischen Raum ist es üblicher, sich zu einer Tageszeit zu verabreden als zu einer festen Uhrzeit. So ist der Start entspannt und herzliche Gespräche mit Tee, Kaffee und selbstgebackenen Kleinigkeiten schaffen eine gastfreundliche Atmosphäre. Nach dem Ankommen und Austauschen setzen sich alle an die Tische, die Kerstin für das Malen vorbereitet hat. Jedes Treffen steht unter einem Thema. Das hilft, ins Malen zu kommen. Es richtet Gedanken aus. Kerstin stellt das Thema für heute vor: Bäume. Sie erzählt, teilt ihre persönlichen Assoziationen dazu. Bewusst hat sie es allgemein gehalten. Das gibt Freiheit. Jede Frau kann sich mit ihren heutigen Gedanken und Gefühlen mit dem Thema verbinden und das malen, was ihr in den Kopf kommt. Dabei ist es egal, welche künstlerischen Fähigkeiten die Einzelne mitbringt. Oft lachen die Frauen selbst darüber, was sie zu Papier bringen. Manchmal sieht es eher kindlich aus, manchmal auch sehr, sehr kunstvoll. Ein Bild zu malen ist auf vielen Ebenen wertvoll und hilfreich. Unsichtbares wird sichtbar, bekommt Gestalt: „Ich habe etwas geschafft! Ich habe etwas geschaffen!“ Sprache wird zweitrangig. Wenn Sprache fehlt, kann das Bild eine Brücke anbieten.

Nach dem Malen ist jede Frau eingeladen, mit Kerstin über ihr Bild zu sprechen. Die anderen hören zu, können sich am Gespräch beteiligen. Es entsteht ein Miteinander, indem geteilt wird, was in ihnen vorgeht, was schwer ist, was schön ist oder war. Was das Leben, ihre eigene Lebensgeschichte geprägt hat. Es ist eine Zeit, die von Schönheit und Leichtigkeit geprägt ist, und auch von Tiefgang und Miteinander, Anvertrauen und Hinsehen. Sie wagen sich an Tabuthemen und Erinnerungen. Sie zeigen sich in ihrer ganz eigenen Kultur, in ihrer Persönlichkeit, in ihrer Kreativität. Verdecktes wird sichtbar. Grenzen werden wahrgenommen. Sie trauen sich, an Grenzen zu gehen, sie miteinander zu überwinden. Sie sind mutig. Sie muten sich einander zu.

Jede entscheidet selbst, was sie erzählt und wann sie sich sicher genug fühlt, auch über Schweres zu sprechen. Jede in ihrem Tempo. Jede Einzelne gibt selbst die Richtung des Gesprächs vor: „Das ist der Orangenbaum, der im Garten meiner Großeltern gestanden hat. Diesen Baum gibt es nicht mehr. Und den Garten meiner Großeltern gibt es auch nicht mehr.“ Eine andere Frau erklärt: „Mein Baum, der steht für Syrien. Und ich habe die Hoffnung, dass Syrien einmal wieder aufblühen wird, genau wie der Baum auf meinem Papier.“ Manche sehen zurück und können sich nur noch an Zerstörung erinnern. Kerstin hilft, dass sie sich auch wieder an Schönes erinnern können. Denn um nach vorn zu gehen, braucht es eine Wirklichkeit, in der beides seine Bedeutung hat: Das Kaputte und Leidvolle. Und auch die Erinnerung an das fröhlich bunte Leben in der alten Heimat mit Familie und Alltag.

Farboase. Ein Ort, ein Treffpunkt. Für einander da sein. Du bist nicht allein! Nachspüren, was hinter mir liegt. Einfach sein, wie ich gerade bin. Auftanken. „Ich möchte von dir hören. Ich sehe dich. Du bist wertvoll. Und deine Geschichte ist es auch!“

Eine Frau hat ihre Lebenslinie gemalt – eine biografische Spur mit allen Höhe-, Tief- und Wendepunkten. Mit Blick auf die Fluchterfahrung beschreibt sie: „Das war alles ganz schrecklich. Das will ich vergessen. Und hier, hier ist alles gut. Ich schaue in die Zukunft.“ „Was hat dir denn geholfen, da hindurch zu kommen?“ „Ich musste.“ „Ich glaube dir, dass du musstest. Aber überleg doch nochmal, was hat dir dabei geholfen?“ „Ich musste für meine Kinder.“ „Ja, das glaub ich. Überleg nochmal genauer, was dir geholfen hat.“ „Ja, ich hab meine Kinder so lieb.“ „Ja und weißt du, das konnte der Krieg dir nicht nehmen: Deine Kinder zu lieben egal, was um dich herum ist. Du hast die Fähigkeit, du bist in der Lage, deine Kinder zu lieben!“

Farboase. Gefühle dürfen sein. Auch mal schwach sein dürfen. Nicht stark sein müssen für andere. Bewahren und Erinnern. Ermutigen. Wie gut, dass es solche Oasen gibt! Wieder hallt das Wort in mir nach. Was ist mir eine Oase? Wo kann ich auftanken, ich selbst sein?

Kerstin erzählt, wie alles anfing. Sie hatte einen Traum, noch bevor sehr viele Frauen, Kinder und Männer nach Europa und Deutschland flohen: Sie geht mit jemandem an der Seite durch Potsdam. „Ich habe die Person nicht gesehen, aber für mich war das Jesus.“, erzählt sie. Während sie durch die Straßen geht, sieht sie eine geflüchtete Frau mit einem Kind auf dem Schoß auf der Straße sitzen, die dort bettelt. „Ich bin in dem Traum an der Frau vorbeigegangen, weil ich dachte: Sie sind ja in Deutschland. Sie sind hier in Sicherheit, ich brauche mich nicht zu kümmern.“ Im Traum kommt sie dann ein zweites Mal an der Frau vorbei und erkennt: Das Kind schreit vor Hunger. Doch in ihrem Herzen war der Gedanke: Deutschland versorgt sie – auch mit Essen. Das ist nicht meine Aufgabe. Und sie geht wieder weiter. Dann kommt sie ein drittes Mal an ihnen vorbei. Und ihr Blick fällt darauf, dass das Einzige, was die Mutter ihrem Kind geben kann, ein Stein ist. „Das berührte mich zutiefst. Ich erkannte: Wenn die Frauen ihre Lasten weiter tragen, werden sie sie auch ihren Kindern weitergeben. Ihre Lasten werden die Lasten der Kinder. Das Trauma geht in die nächste Generation über.“ Unter Tränen und mit einem zutiefst berührten Herzen wachte sie auf. Es war noch ein Weg bis zu dem Angebot der Farboase, aber sie ließ sich von Jesus führen. Mit der Zeit wurde ihr immer klarer: „Ich wünsche mir so sehr, dass die Frauen gesehen und gehört werden, sodass sie nicht mehr Steine weitergeben müssen, sondern wirkliche Nahrung weitergeben können.“

Kerstin machte Weiterbildungen in der Trauma- und Trauerbegleitung. Aus dem Traum ist schließlich diese besondere Oase entstanden. Wo Impulse Heilung und Zuversicht auslösen. Wo sich eine „Grenzgängerin“ wie Kerstin zwischen den Kulturen bewegt und sich selbst verschenkt. Sie gibt, sodass andere weitergeben können. Und dabei strahlt sie über das ganze Gesicht.

Mehr Einblick über Kerstin und ihre Arbeit kannst du hier bekommen: https://kunst-und-beratung.com/