Komplexes Ich

Die Vielfalt in uns gehört dazu

Text: Franziska Klein // Fotos: Hannah Zint

„Du hast dich verändert“, stellte meine Freundin fest, und ich konnte an ihrem verunsicherten Blick nicht ablesen, ob sie es als Kompliment meinte. Wir hatten uns zwei Jahre nicht gesehen – zwei Jahre, in denen viel passiert war. Als sie ging und ich die Kaffeetassen ausspülte, dachte ich über ihre Aussage nach, dass ich „weicher“ geworden sei. Unwillkürlich musste ich schmunzeln, denn sie hatte nicht meinen Körper gemeint. Sie meinte es wohl als Kompliment, da sie mich als unnahbarer und kühler in Erinnerung hatte, aber es ließ ein flaues Gefühl in meiner Magengrube zurück, und ich fragte mich, warum. Vermutlich, weil es mich reduzierte, als könne man über einer Tasse Kaffee turbulente Monate voller Wirrungen und Veränderungen in eine Box mit einer Aufschrift packen. Diese statische Feststellung machte mich traurig. Ich fühle mich nicht gesehen, wenn meine Veränderungen mit Sätzen wie „Früher warst du ganz anders.“, „Das bist doch nicht du.“ oder „So kenn‘ ich dich gar nicht.“ bewertet werden.

Mich erinnert das an Geburtstagsgrußkarten mit dem aufrichtigen Wunsch „Bleib, wie du bist.“. Zu wissen, wie jemand reagiert, was jemanden auf die Palme oder zum Strahlen bringt, gibt uns ein Gefühl von Sicherheit und Verbundenheit. Wir möchten einander einschätzen und abmessen können, unser Gegenüber als zuverlässig und stimmig erleben. Gleichzeitig wollen wir gesehen und gekannt werden. Dabei muss ich zugeben, dass auch ich andere oft labele. Du bist so. Ich bin so. Du mochtest schon immer Pfefferminzschokolade und ich trage am liebsten Olivgrün. Du liebst das Meer. Ich fahre am liebsten in die Berge. Du entdeckst deine eigene Stadt dauernd neu. Mein Orientierungssinn hingegen ist untrüglich. Du kommst meistens zu spät. Ich bin notorisch überpünktlich. Vorlieben und Eigenschaften werden dadurch sortiert. Auch ich denke in Boxen, denn ich will mich selbst und andere verstehen und greifen können. Dabei wird nicht nur die Identität des anderen, sondern auch meine eigene abgesteckt, indem ich Selbstäußerungen und Zuschreibungen ausspreche und verinnerliche. Ich fülle Persönlichkeitstests und Profile auf Social Media aus, schreibe Bewerbungen und Instagram-Posts und stelle mich als diejenige vor, die ich meine zu kennen. Getrieben von der Sehnsucht, mich verbunden und sicher zu fühlen, konstruiere ich meine Identität und greife damit aber immer zu kurz.

Der Theologe Dietrich Bonhoeffer ringt in seinem Gedicht „Wer bin ich“ nach einer Antwort auf die Fragen: „Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? (…) Wer bin ich? Der oder jener? Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer? Bin ich beides zugleich?“

In seinen Zeilen finde ich mich wieder, denn dieses Gefühl, selbst nicht genau zu wissen, wer und wie ich bin, kehrt in den Verwicklungen meines Lebens regelmäßig wieder. Ich frage mich, ob wir uns nicht immer selbst auch ein Stück weit verborgen bleiben. Wir lassen uns doch kaum wie in Freundschaftsbüchern in drei Eigenschaften, unseren Vorlieben und Kindheitsträumen angemessen erfassen und brauchen andere Fragen und Augen, mit denen wir einander begegnen.

Kennst du das auch, dass du etwas zum Geburtstag geschenkt bekommst – Ferrero Küsschen, Porzellanschweinchen, Rooibostee – das du längst nicht mehr magst, Freunde aber so über dich abgespeichert haben? Dass du dich für unkompliziert hältst und dann aber genervt reagierst? Dass du dich eigentlich als belastbar kennst, aber dann fehlt dir die Energie für alles?

Ich glaube, du und ich wurden nicht geschaffen, um in Boxen zu passen. Du und ich sind Wesen, die unglaublich vielschichtig und vielfältig gewebt sind. Durch diese Komplexität  sind wir uns selbst und anderen immer auch ein Stück weit verborgen und erleben uns auszughaft. In uns steckt mehr, als wir selbst wissen, und auf der Entdeckungsreise „Leben“ werden wir Seiten, Vorlieben und Eigenschaften an uns begegnen, die wir bis dahin nicht kannten und die wir vielleicht auch nicht immer mögen. Diese Reise kann eine Einladung sein, mir und anderen außerhalb festgefahrener Zuschreibungen zu begegnen. In mir und in dir schlummert mehr, als wir bis jetzt sehen, und wir können mehr, als wir von uns halten.

Ich glaube an einen Gott, der selbst in keine denkbare Box passt und auch daran, dass er uns nicht als statische Materie geschaffen hat. Dieser Gott ist größer und weiter, als ich mir das vorstellen kann und liebt die Vielfalt und die Vielschichtigkeit. Menschliche Komplexität ist für mich ein winziger Hinweis auf die Weite Gottes. Im Neuen Testament der Bibel heißt es über diesen Gott, dass er „mit seiner unerschöpflichen Kraft in uns am Werk ist und unendlich viel mehr zu tun vermag, als wir erbitten oder begreifen können …“ (Epheser 3,20). Dieses „viel mehr“ weist mich auf Horizonte jenseits meiner Zuschreibungen und meines Denkvermögens hin. Es erinnert mich daran, dass ich nicht alles sehe und dass das eine gute Nachricht ist. Es zeigt mir auf, dass ich anderen Menschen in ihren Lebensgeschichten und Prozessen nicht gerecht werde, wenn ich sie darauf reduziere, was ich bei ihnen wahrnehme, von ihnen weiß und wie ich sie kenne. Es gibt immer noch ein „mehr“.

Vielleicht erlebst du, indem du deine eigene Vielfalt entdeckst, dass du weder in die eigenen vorgefertigten Boxen noch in die der anderen passt. Meine Erfahrung ist, dass das auch mit Angst verbunden sein kann, weil mir vermeintliche Sicherheiten aus den Händen gleiten. Und doch wartet darin eine Chance und ein Ruf zu mehr Freiheit: Wir sind eingeladen, die eigene Vielseitigkeit kennenzulernen und die damit verbundenen Spannungsfelder auszuhalten. Und wir werden herausgefordert, anderen Menschen mit dieser Haltung zu begegnen – ihnen Raum und Luft für diese Entdeckungsreise zuzugestehen, aber auch zuzusprechen. Wir sehen nie alles, können nie um alles wissen und die Einladung, unserer eigenen Vielfalt und der der anderen zu begegnen, ist immer auch eine Einladung, uns überraschen zu lassen.

Dietrich Bonhoeffer schließt sein Gedicht mit den Worten ab: „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“

Sein Blick nach oben tut mir gut. Tröstlich verlangsamt es mein inneres Gedankenkarussell. Mein Gott kennt mich. Ich bin gekannt. Und das mit meinen harten und meinen weichen Seiten, und jenen, die dazwischen liegen. In meiner Veränderung und meinem Mir-Selbst-Verborgensein.

Während ich andere und mich selbst überrasche und Offenheit brauche, Veränderungen anzunehmen, bin ich – davon bin ich überzeugt – auf dieser Reise einem guten Gott nicht verborgen. Von ihm kann ich die Ruhe und Sicherheit, die Liebe und Gelassenheit empfangen, damit ich der eigenen Vielfalt und der anderer immer wieder neu mit ganz viel Gnade begegnen kann. Gnade als großzügiger Annahme, die ihren Ursprung in Gott selbst hat. Und davon gibt es viel mehr, als ich ahne.