In Grenzen Freiheit finden

Frei werden von Perfektionismus und Resignation

Text: Dina Gehr, Heilpraktikerin für Psychotherapie und MA in Counseling Psychology (USA) // Fotos: Hannah Zint

 

Auf Lisas* Gesicht spiegeln sich Angst und Scham. Tränen der Ratlosigkeit und Verzweiflung laufen ihre Wangen herunter. Sie schaut mich während der Beratung direkt an: „Warum kann ich das nicht endlich ändern? Ich schaffe es einfach nicht, in Konfliktsituationen ruhig und klar meine Meinung zu sagen. Ich sage einfach nichts … nichts! Und jetzt geht Katja* morgen Abend mit anderen Freundinnen ins Kino. Ohne mich. Obwohl ich mir genau diesen Film unbedingt mit ihr ansehen wollte …“ Konflikte sind eine echte Herausforderung für Lisa. Schon länger leidet sie an Unsicherheit und Ängsten, und ihr Selbstwertgefühl ist im Keller. Sie würde so gerne sicher, überzeugend und kompetent wirken. Keine Fehler machen, alles im Griff haben. Einen entspannten, schönen Abend mit ihrer Freundin verbringen. Doch sie schafft es nicht. Mit jedem verpatzten Gespräch wächst ihre Angst, ihre Traurigkeit und ihre Scham.

Genau wie Lisa haben wir alle unsere eigenen Grenzen und Schwächen, die uns zu schaffen machen.  Manchmal können sie uns sogar an den Rand der Verzweiflung bringen. Oft sind wir dabei in zwei entgegengesetzten Reaktionsmustern gefangen: Perfektionismus oder Resignation.

Die Perfektionismus-Falle: Du gibst jeden Tag dein Bestes. Du schaffst viel. Aber du bist angespannt und unter Druck – es ist ermüdend und anstrengend. Du kannst nicht mit 90 Prozent zufrieden sein – das geht noch besser! Oft kommen Ängste hoch, manchmal Panik. Fehler dürfen nicht geschehen. Und wenn sie passieren: katastrophal, eine Enttäuschung. Die Abwärtsspirale dreht sich: Selbstverurteilung, Scham und Schuldgefühle überkommen dich. Du hast versagt. Jetzt weiß jeder, dass du gar nicht so kompetent bist. Die Angst vor einer Kündigung, vor dem Verlust einer Freundschaft oder einer Beziehung schleicht in dir hoch. Der tägliche Kampf beginnt erneut: Du musst es noch besser machen, noch vorsichtiger sein. Die perfekte Fassade muss aufrechterhalten werden. Echte Freude, Gelassenheit und Freiheit sind längst zu Fremdwörtern geworden. Der gesellschaftliche Druck zur Selbstoptimierung hat dich fest im Griff. In diese Falle gerate ich selbst oft genug.

Die Resignations-Falle: Du hast aufgegeben. Nach zahllosen vergeblichen Anläufen versuchst du es jetzt nicht einmal mehr, eine Aufgabe gut zu erledigen oder eine Freundschaft zu vertiefen oder zu erhalten. Es würde ja sowieso in einer Enttäuschung enden. Irgendwann würde der andere bemerken, dass du nicht gut genug bist und sich von dir abwenden. Durch Resignation schützt du dich vermeintlich vor Enttäuschungen und Verletzungen. Du sabotierst damit die Chancen auf Beziehungen oder Freundschaften im Vornherein. So fühlst du dich sicherer, bleibst aber einsam und allein. Echte Freundschaften, die dich tragen, hast du als Utopie abgehakt.

Perfektionismus oder Resignation. Zwei Leidenswege, zwei Sackgassen. Und doch scheint es manchmal, als wären sie die beiden einzigen Möglichkeiten. Aber Perfektion und Resignation sind zwei Extreme. Dazwischen gibt es noch viele andere Variationen, unseren Schwächen zu begegnen und Grenzen in Chancen zu verwandeln. Einen Weg möchte ich dir aufzeigen, so paradox er auch klingen mag: Der Umgang mit den eigenen Grenzen liegt genau in der Akzeptanz dieser vermeintlichen Feinde. Ich spreche hier nicht von passiver Resignation oder von Stillstand. Akzeptanz ist vielmehr ein aktiver Prozess, den ich in vier Stufen einteilen möchte: Wahrnehmung – Verarbeitung – Friede – Freiheit.

Wahrnehmung: Wir nehmen unsere Grenzen bewusst wahr, ungeschminkt, ohne uns selbst etwas vorzumachen. Nur was wir wahrnehmen, können wir auch akzeptieren. Es braucht Mut, genau hinzusehen. Aber: In der Akzeptanz unserer Schwächen liegt Stärke.

Und auch wenn beim ehrlichen Anschauen unangenehme Gefühle zum Vorschein kommen, lohnt sich die Aufrichtigkeit. Du lernst dich selbst dadurch besser kennen. Schaue auch nicht nur auf deine Schwächen, sondern auch auf deine Stärken. Und auch auf die vielen Bereiche dazwischen. Es ist nicht alles schwarz oder weiß: Die Farbpalette ist viel reicher. Nur weil etwas nicht deine Stärke ist, bedeutet es noch lange nicht, dass es eine Schwäche ist. Wenn du dich so ehrlich anschauen und akzeptieren kannst, kannst du den nächsten Schritt in Angriff nehmen.

Verarbeitung: Jeder Mensch verarbeitet äußere und innere Erlebnisse auf seine Art und Weise. Es kann dir helfen, Faktoren zu verstehen, die zu unserem Verhalten beitragen, zum Beispiel: deine genetische Herkunft, deine Erziehung oder mangelnde Vorbilder. Weitere Faktoren sind: dein Umfeld, deine Persönlichkeit, fehlende Möglichkeiten, aber auch Eigenverantwortung. Wir alle machen Fehler und leiden unter den Fehlern anderer. Wir werden verletzt und wir verletzen andere. Die Erwartung, immer alles richtig zu machen, ist unrealistisch und zum Scheitern verurteilt. Menschsein bedeutet Begrenztheit, Unvollkommenheit, Mangelhaftigkeit. Vielleicht kommt in dir an diesem Punkt auch das Bedürfnis hoch, jemanden um Vergebung zu bitten. Meistens kostet dieser Schritt viel, aber er belohnt mit einer tiefen Befreiung. Oder du möchtest mit jemandem sprechen, der dir zuhört. Manchmal braucht es dazu eine Fachperson, manchmal reicht aber auch ein Gespräch mit einer guten Freundin oder einer anderen Person, der du vertraust.

Friede: Dir selber zu vergeben und dich mit deinen Schwächen zu versöhnen, kann zu einem tiefen inneren Frieden führen. Sei gnädig mit dir selbst. Manchmal braucht es dafür eine bewusste Entscheidung. Du kannst dir zum Beispiel selbst einen Brief schreiben, in dem du dir vergibst. Für manche von uns ist es aber auch ein langsamer Prozess. Du kannst dir dabei zum Beispiel jeden Tag etwas Positives über dich selbst sagen oder dir Vergebung zusprechen. Worte und Gedanken können viel verändern. Verabschiede dich von den strengen und unbarmherzigen Erwartungen, an denen du immer wieder scheiterst. Das bedeutet nicht, dass du dir alles durchgehen lassen musst. Oder dass du dir dann keine Mühe mehr geben wirst. Aber dir selbst zu vergeben und gnädig mit dir zu sein, führt dazu, dass du dich selbst annehmen kannst und inneren Frieden mit dir hast – und schlussendlich führt es zu Freiheit. Habe Mitgefühl mit deinen schwachen Seiten. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Nur zu oft vergessen wir diesen zweiten Teil.

Freiheit: In der Akzeptanz deiner Begrenztheit liegt Freiheit. Freiheit, dich selbst anzunehmen und wahrhaftig zu erkennen, wer du bist. Dich selbst zu sehen und gesehen zu werden. Freiheit, dich weiterzuentwickeln und zu wachsen. Ohne Verurteilung, ohne Scham und ohne Druck. Freiheit, auf der einen Seite dankbar zu sein für die einzigartige und unverwechselbare Person, die du durch Höhen und Tiefen geworden bist und den Weg, den du bereits zurückgelegt hast. Und gleichzeitig eine Freiheit, zu wachsen und den Weg weiterzugehen. Eine Freiheit, dich weiterzuentwickeln, anstatt stillzustehen.

Grenzerfahrungen mit uns selbst können Chancen sein. Auch wenn sie Narben hinterlassen, erwächst daraus die unverwechselbare Schönheit deines Charakters. Durch Grenzerfahrungen erhält deine Persönlichkeit ihr Profil, die sie von der Menge abhebt. Die Möglichkeiten, die ich dir oben empfohlen habe, können dir helfen, den Teufelskreis von Perfektionismus und Resignation zu durchbrechen und wahre Freiheit zu erfahren. Genau wie Lisa: Sie ist noch nicht angekommen; doch sie hat sich auf den Weg gemacht. Sie braucht viel Mut und Gnade mit sich selbst. Tag für Tag. Doch sie ist bereits freier und entspannter. Es ist ein Weg. Schritt für Schritt. Tag für Tag.

 

*Name geändert

Eine Frau versteckt sich am Meer.